Rationale Einstellung
Was folgt, ist eine Übung zur Figurenentwicklung. Dabei geht es nicht um größtmögliche Realitätsnähe in der Abbildung der menschlichen Psyche. Vielmehr soll die Differenzierung zwischen der rationalen Einstellung einer Figur und ihrer emotionalen Haltung ein weiteres Mittel aufzeigen, mit dem Autoren inneren Konflikt darstellen und Figuren Mehrdimensionalität verleihen.
Bewusste und unbewusste Handlungsmotivation
Im Storytelling werden die Taten einer Figur durch ihr Wertesystem und ihre Einstellung, also ihre intellektuelle Position bestimmt – zumindest auf der Ebene, der sich die Figur bewusst ist. Allerdings fungiert die intellektuelle Haltung oft als artikulierte Version der emotionalen Haltung einer Figur.
Diese Differenzierung ist nicht ganz leicht herauszuarbeiten und mag spitzfindig erscheinen, doch oft ist es eine Hilfe, genau zu präzisieren, welchen Grund oder Ursprung das Verhalten einer Figur hat.
Der Effekt kann enorm sein, wenn es eine Diskrepanz (einen Konflikt) zwischen dem Grund, den die Figur ihren Taten zuschreibt, und dem wahren Ursprung gibt. Wenn der Leser/Zuschauer wahrnimmt, dass die Worte und Taten einer Figur nicht mit ihrer eigentlichen Motivation übereinstimmen, entsteht nicht selten eine Ironie, die durchaus Spannung erzeugen kann.
Auch hier gilt es, das Prinzip von Ursache und Wirkung zu verdeutlichen: Die intellektuelle Haltung lässt sich häufig als nachträglich rationalisiert beschreiben, also als ein Effekt, der von der emotionalen Haltung verursacht wurde.
Fassade und Innenleben der Figur
Aktionen machen den Plot aus, und die Figuren vollziehen sie. Meist verdeutlichen Autoren dem Leser/Zuschauer die Handlungsmotivation ihrer Figuren. Der Wunsch, also die ersehnte Lösung für das externe Problem, die die Figur im Erreichen des Ziels sieht, bringt Notwendigkeiten hervor, die zunächst befriedigt werden müssen, um in der Handlung voranzukommen. (Erst muss der Ritter das magische Schwert finden, dann kann er den Drachen besiegen.) Praktisch die gesamte Reaktion der Figur auf das externe Problem beruht auf ihrer intellektuellen Haltung, die wiederum von der emotionalen Haltung abhängt.
Die intellektuelle Haltung bezieht sich also mehr auf das äußere Problem, das Ziel und den Wunsch, die emotionale Haltung auf das interne Problem und die daraus resultierende innere Not der Figur. Die intellektuelle Haltung spiegelt eher das Bild, das die Figur von sich selbst hat bzw. der Welt präsentieren möchte, während Autoren durch Darstellung der emotionalen Haltung eher das zeigen, was die Figur vor der Welt verbirgt. So kann die intellektuelle Haltung auch eine Fassade sein.
Beispiel
In In der Hitze der Nacht lässt sich Polizeichef Gillespie von seiner rassistischen Grundeinstellung hinreißen und tritt gegenüber Kollege Tibbs, den er zunächst sogar zum Kriminellen abstempelt, mit Vorbehalten und Misstrauen auf – was für ihn vollkommen logisch und vernünftig ist, denn als weißer Mann stuft sich als überlegen ein. Seine emotionale Haltung erlaubt ihm gar kein anderes Agieren. Der Zuschauer hingegen weiß, dass Gillespies Gefühl fehlgeleitet ist und geändert werden muss.
Mit anderen Worten: Die intellektuelle Haltung einer Figur drückt sich nach außen in ihren Handlungen aus. Die emotionale Haltung ist, was unter der Oberfläche geschieht – sie muss vom Leser/Zuschauer wahrgenommen werden, damit er den tieferen Grund für die Handlungen der Figur verstehen kann.
Ändere die emotionale Haltung einer Figur – und die Gedanken und nachfolgenden Handlungen, die intellektuelle Haltung insgesamt werden sich grundlegend verändern. Als Gillespie Respekt vor Tibbs gewinnt, ändert sich auch sein Verhalten ihm gegenüber – so sehr, dass er sich am Ende sogar für seinen neuen Kollegen einsetzt.
Gillespie wurde nicht durch rationale Argumente, sondern durch emotionale Erfahrung „umgepolt“. Er wurde quasi von der Geschichte, die er selbst erlebt hat, überzeugt – und so auch das Publikum, die nun emotional verstehen.
Es würde zu kurz greifen, Ratio und Emotio getrennt voneinander zu betrachten. Spannung erreichen Autoren mit der Darstellung der Wechselwirkung. Das gelingt ihnen besonders in Szenen, bei denen beide Aspekte überraschend aufeinander wirken oder Brüche entstehen.