Dialektisches Schreiben

Überlegungen zu einem dialektisch angeleiteten Schreiben, oder: Kann uns die Dialektik helfen, bessere Geschichten zu erzählen?

Gastbeitrag von Richard Sorg.

Prof. Dr. phil. Richard Sorg, Jahrgang 1940, ist Experte für Dialektik. Was ist das, und was hat sie mit meinem Roman zu tun? Nun, „Alle großen, bewegenden und überzeugenden Geschichten sind nicht denkbar ohne die zentrale Bedeutung der Widersprüche und Konflikte, welche die Antriebsenergie der Bewegung und Entwicklung darstellen.“ Damit sind wir mitten in der Dialektik. Und im Storytelling. 

Nach dem Studium der Theologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Tübingen, Westberlin, Zürich und Marburg lehrte Richard Sorg Soziologie in Wiesbaden und Hamburg. Sein Buch „Dialektisch denken“ erschien vor kurzem im PapyRossa Verlag. (Foto: Torsten Kollmer)
 

Ideen, die in sich ein Konflikt- oder Widerspruchspotential enthalten. 

Manchmal steht am Anfang eines Musikstücks, ja einer ganzen Oper ein einzelner, aber zentraler Akkord, der dann allmählich entfaltet wird, seine ihm innewohnenden Seiten, Harmonien und Dissonanzen aus sich, aus dem gewählten, mitunter unscheinbaren Anfang heraustreten lässt, eine dramatische, konfliktreiche Entwicklung durchläuft, so dass am Ende des Weges dieses einfachen Akkords nach seiner Entfaltung dann eine ganze, komplexe Geschichte entstanden ist. So verhält es sich z.B. mit dem sog. Tristan-Akkord zu Beginn von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“, ein leitmotivischer Akkord, der mit einer irritierenden Dissonanz ausklingt.

Der Anfang einer Erzählung ist manchmal ein Einfall, eine Idee, von der man zunächst mal nicht ohne weiteres weiß, wie es weiter gehen soll. Aber manche solche Einfälle oder Anfänge tragen ein Potential in sich, das sich zu entfalten vermag und ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten in sich birgt. ‚Kandidaten‘ für entwicklungsfähige Anfänge sind – vergleichbar dem erwähnten dissonanten Tristan-Akkord – solche, die in sich ein Konflikt- oder Widerspruchspotential enthalten; es kann aber auch eine Ruhe sein, mit der die Sache eröffnet wird, eine Ruhe, die sich dann als trügerisch erweisen mag. Vergleichbares finden wir auch in manchen Dramen, etwa bei Bertolt Brecht.

Damit sind wir bereits mitten in der Dialektik. 

Hegel – Widerspruch als die Kraft, welche die Lebendigkeit einer Sache ausmacht. 

Einen entsprechenden Einstieg mit einem verstörenden, widersprüchlichen Anfang finden wir auch bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), dem für die Dialektikfrage bedeutendsten deutschen Philosophen. Er beginnt sein Hauptwerk „Wissenschaft der Logik“ (nach seinem großen vorbereitenden Werk „Die Phänomenologie des Geistes“) mit der Frage, womit bei einem philosophischen Grundlagenwerk, das möglichst nichts voraussetzen darf, der Anfang gemacht werden soll. Seine zunächst irritierende, unverständliche Antwort lautet: „Sein, reines Sein, – ohne alle weitere Bestimmung“ (Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke Bd. 5, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1969, 82), da eine jede Bestimmung ja bereits etwas voraussetzen würde, das dann selbst wieder begründet oder hergeleitet werden müsste. Aber, so zeigt sich schnell, ein solches reines, bestimmungsloses Sein ist, weil nichts Bestimmtes, vielmehr völlig unbestimmt, vom Nichts nicht zu unterscheiden. Nach längerem ermüdendem, ja absurd erscheinendem Hin und Her zwischen Sein und Nichts, wobei sich das Sein, wenn man es fassen will, in Nichts verwandelt – und umgekehrt, erscheint endlich ein Ausweg aus diesem Labyrinth: das Einzige, was man sagen kann, ist, dass dieses scheinbare Schaukelspiel eine Bewegung darstellt. Hegel nennt diese Bewegung das Werden; es ist ein reines Entstehen und Vergehen. Mit dem „Werden“ hat sich so bei seiner Suche nach einem voraussetzungslosen Anfang eine erste, wenn auch gänzlich abstrakte, allgemeine Kategorie ergeben.

Aber damit hat er – jedenfalls in seinem Verständnis – zugleich den Motor der weiteren Entwicklung entdeckt oder formuliert. Denn allen künftigen, d.h. konkreteren, komplexeren Sachverhalten und Kategorien liegt diese elementare Bewegung zwischen Sein und Nichts, zwischen den beiden Seiten dieses widersprüchlichen Verhältnisses zu Grunde. In der Bewegung des Werdens bilden die beiden, für sich betrachtet abstrakten Seiten oder Momente, eine zusammengehörige Einheit, somit ein erstes „Konkretes“ in Hegels Terminologie, aber eine Einheit, die den Widerspruch nicht tilgt, sondern ihn als Motor für die weitere Entwicklung versteht, als die Kraft, welche die Lebendigkeit einer Sache ausmacht. (Zu Hegels, dem landläufigen Verständnis entgegengesetzten Begriffsgebrauch von „konkret“ und „abstrakt“ vgl. seinen kleinen, ausnahmsweise leicht verständlichen, aber für sein dialektisches Denken sehr aufschlussreichen Text „Wer denkt abstrakt?“, Werke Bd. 2, 575-581.)

Konflikt- oder Widerspruchspotential, wodurch das Geschehen vorangetrieben wird. 

Betrachten wir die Dinge oder Geschichten, die wir erleben oder produzieren, kann es erhellend sein für ihr Verständnis und für ihre Entwicklung, wenn wir auf das darin enthaltene Konflikt- oder Widerspruchspotential achten, wodurch das Geschehen vorangetrieben wird. Zum Widerspruch gehört das Negative und die Negation. Diese ist darum gar nicht zu denken ohne ihren Gegensatz, das Positive oder die Position. Anders als man zu denken gewohnt ist, wohnt dem so verstandenen Negativen eine kreative Kraft inne. Das wusste z.B. Goethe, wenn er in seinem „Faust“ in der Studierzimmer-Szene Mephisto, den Inbegriff des Negativen oder Bösen, sagen lässt, er sei „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ und „Ich bin der Geist, der stets verneint!“

Alle großen, bewegenden und überzeugenden Geschichten sind nicht denkbar ohne die zentrale Bedeutung der Widersprüche und Konflikte, welche die Antriebsenergie der Bewegung und Entwicklung darstellen. Und überall, wohin wir blicken, erkennen wir dieses Ineinander, diese Zusammengehörigkeit oder Einheit von Widersprüchlichem. So gehört z.B. der Tod zum Leben; Leben heißt immer auch Sterben, ständig sterben Zellen in uns ab und entstehen neue; wir, als Organismus betrachtet, können nur leben, indem viele Pflanzen und Tiere dafür ihr Leben geben müssen. Dabei ist für Hegel das Leben das ‚übergreifende Allgemeine’. Nicht das Leben des einzelnen Individuums, denn als Individuen sind wir sterblich; aber das Leben als solches bleibt – jedenfalls solange wir unsere Erde nicht soweit zerstören, dass dabei auch alles Leben, das im Prozess der Evolution entstanden ist, vernichtet wird, wozu wir heute bereits in der Lage wären.

„Das Wahre ist das Ganze.“ 

Alle großen Dramen und Romane, die uns ergreifen und bewegen, leben von diesen Widersprüchen und Konflikten, welche die Handlung vorantreiben, gewinnen ihre Lebendigkeit und Überzeugungskraft nicht zuletzt durch sie.

Aber nicht nur hier, wo es um große Gefühle und Erschütterungen geht, selbst bei so elementaren Operationen wie einer Definition gehören der Widerspruch und die Negation dazu: Etwas zu definieren oder zu bestimmen heißt, das Etwas, das ich definitorisch eingrenze, vom Anderen, das es nicht ist, abzugrenzen, das Andere also auszugrenzen, zu negieren. Wenn wir dies jedoch reflektieren, statt einseitig auf einem begrenzten Standpunkt zu beharren, müssen wir auch das Ausgegrenzte in unsere Überlegungen einbeziehen, müssen wir das Ganze denken, das Eingegrenzte wie das Ausgegrenzte, denn beides gehört zusammen. Darum schreibt Hegel in seiner Phänomenologie: „Das Wahre ist das Ganze“ (Hegel, Werke Bd. 3, 24), ein Satz, der auch als eine methodische Maxime verstanden werden kann.

Das „Dialektische“ beim Schreiben. 

Mit all dem haben wir das „Dialektische“, das dialektische Denken umschrieben, jedenfalls eine seiner Grundformen. Diese Denkweise auch beim Schreiben von Texten zu nutzen, kann die Überzeugungskraft und den erfahrungsgesättigten Realitätsgehalt des Geschriebenen befördern. Dies kann ich auch bei fiktionalen Texten anwenden, denn selbst diese brauchen für ihre innere Logik einen Motor, der die Entwicklung vorantreibt, der den Facettenreichtum und die Komplexität eines dargestellten Sachverhalts, eines Ereignisses oder einer Beziehung befördert.

 

Schon mal versucht, die Protagonist*in als das Etwas zu verstehen, das sich entsprechend abgrenzt von der Antagonist*in bzw. vom Antagonismus, also vom Anderen, das sie nicht ist? Beide zusammen bilden das Wahre, das Ganze. Wie und warum der Antagonismus als definierendes Element des Protagonismus‘ verstanden werden kann, zeigen wir in unserem nächsten Gastbeitrag.

 

 

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