Emotionale Haltung

Was folgt, ist eine Übung zur Figurenentwicklung. Dabei geht es nicht um größtmögliche Realitätsnähe in der Abbildung der menschlichen Psyche. Vielmehr soll die Differenzierung zwischen der emotionalen Haltung einer Figur und ihrer rationalen Einstellung ein weiteres Mittel aufzeigen, mit dem Autor*innen inneren Konflikt darstellen und Figuren Mehrdimensionalität verleihen.

Eine Figur in einer Geschichte hat Überzeugungen, Werte, Ideen, Leidenschaften. Kurz gesagt, eine emotionale Haltung. Es ist dieses Bündel von Gefühlen, die aus der Figur einen Charakter machen.

Unter emotionaler Haltung verstehen wir Glaubenssystem und Wertvorstellung. Dies ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass Geschichten oft in Konflikt stehende Wertvorstellungen zeigen, und das Thema der Geschichte eine dieser Wertvorstellungen als vorteilhaft gegenüber der anderen darstellen kann.

Eine emotionale Haltung entsteht nicht im Vakuum. Geschichten zeigen Ursache und Wirkung, und die emotionale Haltung der Charaktere ist da keine Ausnahme. Die emotionale Haltung eines Charakters hat Ursachen. Da es sich um Emotionen handelt, können sie schwer zu lokalisieren sein – und zugleich irgendwie offensichtlich.

Herkunft als Ursache der emotionalen Haltung 

Nehmen wir als Beispiel eine Kontrastgeschichte wie In The Heat Of The Night (In Der Hitze Der Nacht). Der Polizeichef im tiefen Süden der USA ist ein Rassist. Das ist seine emotionale Haltung und im Sinne dieser Geschichte auch sein inneres Problem. Dass er ein Rassist ist, überrascht das Publikum keineswegs. Es ist angesichts seiner Herkunft absolut glaubwürdig. Er kommt aus einem Gebiet, in dem zumindest zu dieser Zeit ein solcher Engstirnigkeitsgrad vorherrschte.

Worauf wir hier hinauswollen, ist, dass die emotionale Haltung eines Charakters für das Publikum plausibel gemacht werden muss, was dadurch erreicht werden kann, dass die Herkunft dieses Charakters deutlich gemacht wird. In vielen Geschichten, muss wo eine Figur herkommt, zu dem passen, was sie ist. Der Ursprung erzeugt die emotionale Haltung.

Reden wir über das Setting? Nun, nur in gewissem Maße. Es geht nicht nur darum, wo die Handlung der Geschichte stattfindet – eine Autor*in berücksichtigt auch die Herkunft der einzelnen Charaktere. In The Heat Of The Night spielt in dem Gebiet, aus dem Polizeichef Bill Gillespie kommt. Das Setting bestimmt also bis zu einem gewissen Grad das Verhalten der Figuren – oder besser gesagt, das Verhalten der Figuren sollte angesichts des Settings nicht unglaubwürdig sein.

„Woher“ eine Figur kommt, muss sich nicht unbedingt nur auf geographische Orte beziehen. Virgil Tibbs‘ Handlungen passen nicht nur zu ihm, weil er aus Philadelphia stammt, sondern weil er ein afroamerikanischer Polizist ist, der offensichtlich eine gute Bildung und Ausbildung genoss.

Emotionale Haltung im Kontext der Story-Welt

Außerdem ist „wo“ relativ zur Erzählwelt. Im Fall von In The Heat Of The Night bringen die Zuschauer/Leser bereits etablierte Konnotationen über Mississippi ein; niemand ist überrascht, dort einen Rassist zu finden. In Herr der Ringe müssen solche Konnotationen erst einmal hergestellt werden. J.R.R. Tolkien unternimmt große Anstrengungen, um zu zeigen, wie und warum ein Elf anders fühlt, denkt und handelt als ein Zwerg.

Es ist also die Umgebung, in der die Figur erzogen wurde, die die emotionale Haltung der Figur beeinflusst.

Eine Autor*in kann mit dieser Binsenweisheit in zweifacher Weise umgehen. Auf der einen Seite: Wenn die Figur im Kopf der Autor*in ganz klare Eigenschaften hat, dann kann es hilfreich sein, ihr oder ihm eine geeignete Herkunft zu geben, um die Figur glaubwürdig zu machen. Auf der anderen Seite: Eine Autor*in kann wissen, dass eine Figur eine bestimmte Herkunft hat. Wenn ja, können diese Ursprünge die Autor*in veranlassen, die Handlung auf eine bestimmte Weise zu entwickeln – denn die Figur hätte sich anders verhalten, wenn sie von woanders gekommen wäre.

So oder so, eine Autor*in ist sich im Allgemeinen der Umgebung bewusst, in der jede Hauptfigur aufgewachsen ist und die die Basis für ihre emotionale Haltung bildet.

Klingt einfach.

Ist es nicht. Es erfordert viel Wissen und Sensibilität seitens der Autor*in. Entspricht die Story-Welt in etwa der realen Welt, dann muss die Autor*in wahrscheinlich, sobald Figuren aus verschiedenen Ländern oder Kulturen auftauchen, die in diesen Ländern oder Kulturen vorherrschenden Werte und Glaubenssysteme ergründen, um den Charakter und sein Verhalten „richtig“ zu gestalten. Das heißt, um sie glaubwürdig zu machen.

Historische Stoffe

In historischen Geschichten ist das zeitliche Setting besonders herausfordernd im Hinblick auf die emotionale Haltung der Charaktere. Viele beliebte historische Romane können zu Recht als anachronistisch bezeichnet werden, da sie Charaktere haben – vor allem weibliche Protagonistinnen – mit Werten und Überzeugungen, die nicht in die Zeit passen. Zum Beispiel: Im Mittelalter war das Aufkommen des Humanismus noch nicht eingetreten. Es gab noch keine Renaissance, keinen Descartes, keinen Kant, keine Französische Revolution und keine amerikanische Verfassung. Wo soll ein Charakter im Mittelalter Ideen, Werte und Überzeugungen herbekommen, die wir heute für selbstverständlich halten? Ideen über unveräußerliche Rechte wie Freiheit und Gleichheit oder Konzepte wie Individualismus. Früher hatten die Menschen andere Werte und Glaubenssysteme als heute, und es ist fast unmöglich, sich in ihre Lage zu versetzen. Historische Fiktion, die sich nicht zumindest implizit mit diesen herausfordernden Fragen beschäftigt, läuft Gefahr, eher klischeehaft und trivial zu wirken.

Was nicht bedeutet, dass triviale historische Geschichten nicht wahnsinnig unterhaltsam sein können, mit starker emotionaler Wirkung aufs Publikum. Es bedeutet einfach, dass eine Autor*in in der Regel eine gewisse Einstellung zu diesem Phänomen hat.

Herkunft vs. Backstory

Beachten Sie den Unterschied zwischen der Erklärung des Glaubenssystems eines Charakters nach Herkunft im Vergleich zu Backstory-Erklärungen. Herkunft beschreibt einen allgemeinen Zustand, nicht eine bestimmte Szene. Wenn dem Publikum oder den Lesern die Konnotationen einer bestimmten Herkunft bewusst sind – oder bei fiktiven Welten bewusst gemacht werden -, dann ist wahrscheinlich keine Vorgeschichte nötig, um zu erklären, warum die Figur so ist, wie sie ist.

Eine Backstory-Erklärung ist insofern anders, als sie sich auf ein bestimmtes Ereignis bezieht, das den Charakter beeinflusst hat und das als Ursache für das Verhalten dieser Figur dargestellt wird. Eine Szene kommt in der Narration vor, dessen Zweck es ist, dass das Publikum einen Aha-Moment hat, bei der es versteht, warum die Figur das getan hat, was sie getan hat.

Es ist zwar legitim zu erwägen, ob es ein oder mehrere beeinflussende Ereignisse gab, die die Geschichte als Ursache für das innere Problem eines Charakters darstellt, aber die Technik birgt das Risiko einer zu starken Vereinfachung. Mehr dazu in unserem Post zu Backstory.

 

Vergleichen Sie nun die emotionale Haltung mit der rationalen Einstellung.

 

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